Dr. Erich Paulun

* 4. März 1862 in Pasewalk 
+ 5. März 1909 in Shanghai
 
1868                1873                1887                                                                                                                 1898               1908            2007

Anekdoten und andere Begebenheiten

*) mit freundlicher Erlaubnis von Herrn Jürgen Asschenfeldt entnommen aus: Carl von der Osten-Fabeck "Erinnerungen"; ISBN 978-3-8391-5628-5

Der Fenstersturz
Die Tigerjagd *)
Die Suche nach dem Bootsmann *)
Winter in Tianjin *)
Der Ausflug nordwestlich über Land *)
Die Operation *)
Eisschwimmen in der Oker
Die Turnfahrt in den Harz

 Über Erich Paulun ist eine Anzahl von Geschichten überliefert. Einige davon liegen in der Schulzeit und zeigen Mut, Kraft, Gewandtheit, aber auch Stolz und Humor. Das damalige Erziehungssystem war für Kinder sehr streng.

Erich Paulun ließ sich von Strafen jedoch nie beeindrucken und reagierte lediglich mit Lachen darauf. Später tat er sich bei Mutproben hervor. So zeigte er schon früh einen starken unbeugsamen Charakter und seine große Durchsetzungsfähigkeit.

Ich fand auch eine Anmerkung, die wenig glaubhaft erschien: „Ein Lehrer, der an Humor und Fleiß des Schülers Erich Paulun Gefallen fand, setzte sich für den Waisenjungen ein und förderte ihn, so dass er mit einem guten Schulabschluss ein Medizinstudium beginnen konnte. Wer kennt einen Lehrer, der am Humor eines Schülers Gefallen findet? Das war schon sehr ungewöhnlich. Lehrer sind stets das Opfer des Humors von Schülern.

Aber dahinter verbarg sich eine Begebenheit, die sehr viel über Erich Paulun aussagt. Für seine außerordentliche Körperkraft und Gewandtheit finden sich später noch weitere Belege.

 

Der Fenstersturz

Erich Paulun geriet während einer Unterrichtsstunde mit einem fachlichen Detail in Widerspruch zu seinem Lehrer. Der Lehrer kanzelte den Schüler, der klüger sein wollte als sein Lehrer, vor der Klasse mit spöttischen Worten ab. Gegen Ende der Unterrichtsstunde stellte sich jedoch heraus, dass Erich Paulun im Recht war.

Dreimal forderte er den Lehrer sehr höflich auf, das zurückzunehmen, war er vor der Klasse zu ihm gesagt hatte. „Herr Lehrer, bitte nehmen Sie zurück, was Sie vor der Klasse über mich gesagt haben“. Der Lehrer weigerte sich dreimal.

Erich Paulun nahm das scheinbar gelassen hin und sagte sehr ruhig: „Gut, wenn Sie das nicht zurücknehmen wollen, dann akzeptiere ich das, aber ich springe dann aus dem Fenster“. Mit diesen Worten ging er schnell zum Fenster, schwang sich auf die Fensterbank und ließ sich nach draußen abgleiten. Direkt unter dem Fenster befand sich ein kleiner Fluss, die Oker, die seinerzeit noch ein reißender Fluss mit Felsblöcken war. Es gab noch nicht die Oker-Talsperre in den nahen Bergen des Harzes, die jetzt den Fluss zu einem Bach werden ließ.

Die Klasse verharrte regungslos. Der Lehrer schleppte sich mit zitternden Knien zum Fenster, um nach dem zerschmetterten Körper Erich Pauluns zu schauen. Dieser aber hielt sich draußen mit den Händen am Fenstersims fest. Als sich der Lehrer hinausbeugte, blickte er direkt in das lächelnde Gesicht von Erich Paulun. „Herr Lehrer, nehmen Sie es jetzt zurück?“ Dieser rief wohl: „Ja, ja, ich nehme alles zurück, aber gib mir Deine Hand.“Erich Paulun kletterte jedoch ohne die Hilfe des Lehrers sehr gewandt und schnell wieder in das Klassenzimmer zurück.

Das alte Schulgebäude, die sogenannte Kommisse, ist in Wolfenbüttel noch immer erhalten. Wer dort vorbeikommt, der achte bitte auf die Fenster mit dem gemauerten Sims hoch über dem Wasser.


Die Tigerjagd *)

Damals durften in China nur die sogenannten Vertragshäfen, die „treaty ports“, von
fremden Schiffen angelaufen werden. Es waren Scha tou (Swatau), Amoy, Futschau
Wentschau, Ningpo, Nanking, Shanghai, Hankau am oberen Yangtse, Tientsien und
Shan hai kwan am Anfang der chinesischen Mauer. In diesen Häfen waren deutsche
Consuln ansässig, in Shanghai ein Generalkonsul. In Swatau residierte Herr Iwo Streich, ein besonders netter, jovialer und gastfreier älterer Herr, ein früherer preußischer Offizier. Mit ihm hatten sich unser Schiffsarzt Dr. Paulun und ich sehr angefreundet. Paulun und ich gingen fast immer zusammen an Land, machten weite Touren und lernten so Land, Leute und ihre Sitten sehr gut kennen. Er war ein ausgezeichneter Arzt und Chirurg, der später ganz in China blieb und da eine hervorragende Carrière machte. Paulun und ich waren oft bei Iwo Streich und klönten mit ihm bei Whisky-Soda oder einem Pülleken. Er war ein besonders großer Nimrod (Jäger), wie wir beide auch.  

Eines Tages erzählten wir ihm, dass wir am nächsten Tag Fasanen schießen wollten, die es in China, der eigentlichen Heimat der Fasanen, in großen Mengen gab. Streich riet dringend davon ab, mit dem Hinweis, dass es Tiger in der Gegend gäbe, und zwar besonders starke sibirische Tiger, die zur Winterzeit nach Süden kämen. Hauptsächlich seien es männliche, alte Tiger, sogenannte „man eater“ (Menschenfresser), die nicht mehr so recht jagen konnten. Da kam der „head boy“ Streichs herein und meldete etwas auf Chinesisch. Gleich darauf erschien dann ein alter Chinese, der unter vielen Kotaus Streich etwas berichtete, der dann zu seinem Geldschrank trat, eine Schachtel herausnahm und sie dem Chinesen übergab, der sich dankbar entfernte.  

Nun erzählte er uns, dass ein Tiger die Frau des alten Mannes beim Holzsammeln im Dschungel, dicht bei Swatau, gerissen und fast ganz aufgefressen habe. Er, der alte Chinese, der die Überreste seiner Frau gefunden habe, habe um etwas Strychnin gebeten, womit er die Überreste seiner Frau vergiften wollte, um des Tigers habhaft zu werden. Streich stellte uns anheim, am nächsten Tag zu ihm zu kommen, um den weiteren Verlauf der Dinge zu erfahren. Er riet uns nochmals von der Jagd ab, aber ohne Erfolg. 

Am nächsten Tag gingen wir früh los, jeder mit einem Kuli als Träger für die Jagdbeute. Wir hatten schon eine ganze Menge Fasanen geschossen, da ruft mit einem Mal Paulun, der ca. 20 Schritt von mir entfernt war: „Osten, Osten!“ Ich hin und sehe ihn im Anschlag auf irgendwas, da sehe ich einen mächtigen Tiger, der auf höchstens 25 Schritt breitseit steht und mit dem Schwanz wedelt. Ich sagte schnell, „Mensch, wenn Sie den mit Fasanenschrot kitzeln, frißt er uns beide auf!“ Paulun setzte ab, und der Tiger fasste sich mit der rechten Pfote nach der Stirn, als ob er sagen wollte „Kinder, Ihr seit ja ganz verrückt“ und trollte langsam ab. Er war besonders wohlbeleibt. Unsere Chinesen hatten schleunigst das Weite gesucht, brachten aber am nächsten Tag die Fasanen auf den „Iltis“, sich damit entschuldigend, dass sie eine große Familie zu ernähren hätten. Paulun und ich machten uns auf den Weg zu Iwo Streich und berichteten ihm unser Erlebnis.

Am nächsten Tag waren wir auch wieder bei ihm, da erschien wieder der alte, in so tragischer Weise um seine Frau gebrachte Chinese, in vergnügter Stimmung. Er berichtet Streich, dass er die Überreste seiner Frau, den Kopf und einen Arm sehr stark mit Strychnin bestrichen und sich dann in der Nähe in der Nacht auf einen Baum verfügt habe. Der Tiger sei schließlich gekommen, hätte tüchtig gefressen und habe sich dann entfernt. Dann habe er entsetzliches Stöhnen und schließlich starkes Schlagen gehört. Als das aufgehört habe, sei er von seinem Baum geklettert und fand den verendeten Tiger, ein besonders starkes Männchen. Er habe sich Hilfe geholt, mit der er den Tiger aus der Decke geschlagen habe. Diese habe er für 15 Dollar verkauft und gleich für 10 Dollar eine nette, junge Frau gekauft; - die aufgefressene sei ja schon alt gewesen - und wolle nun für die übrig gebliebenen 5 Dollar eine große Hochzeit geben, wozu er Streich als den indirekten Stifter des Glücks einlüde. Dieser Tiger war bestimmt unser Freund, der sich so voll gefressen hatte und deshalb so friedlich zu uns war.


Die Suche nach dem Bootsmann *)

Unser Bootsmann kehrte eines Tages nicht vom Landurlaub zurück. Es war ausgeschlossen, dass er etwa desertiert wäre, denn er war ein ganz besonders zuverlässiger Mann. Alle Nachforschungen blieben ergebnislos. Da erbot ich mich mit Paulun, der Sache nachzugehen. Dazu verwandelten wir uns in Matrosen und klapperten an mehreren Tagen vormittags die Hafenkneipen am Soothan-Kreek ab, also zu einer Zeit, wenn die Besatzungen der im Hafen liegenden Schiffe noch keinen Urlaub hatten. Das war eine recht abenteuerliche Sache, denn diese Matrosenkneipen waren mit das übelste, was ich in aller Welt erlebt habe. Die so genannten Kellnerinnen waren der Auswurf aller Nationen, viele waren Deutsche und Österreicherinnen, die sich so nach und nach bis Shanghai durch alle Häfen gearbeitet hatten und nun keine Chancen mehr hatten, jemals wieder in ihre Heimat zurück zu kommen. Manch eine konnte Mitleid erregen, wenn sie so ihre Erlebnisse und traurigen Lebenserfahrungen erzählten. Schließlich ließ sich in der einen Kneipe eine Kellnerin eine Beschreibung des Bootsmannes geben und berichtete, dass so ein Matrose mit Unteroffizier-Abzeichen vor einigen Tagen da gewesen sei, aber total betrunken, so das sie ihm keinen Alkohol mehr verabreicht, vielmehr eine Rikscha herbeigerufen und ihn in diese verladen habe. Der Rikscha-Kuli sei in Richtung Hafen mit ihm davon gefahren. Da war also zunächst nichts weiter zu machen. Nun ertrinken in Shanghai bei dem riesigen Schiffsverkehr und dem billigen Alkohol viele Menschen, und da gab es auf einer Halbinsel eine Stätte, wo diese Opfer des Flusses aufgebahrt wurden, um rekognosziert zu werden. Dies zu tun, wurden Paulun und ich befohlen. Ich muss gestehen, dass dies das übelste Kommando war, das ich jemals hatte. Tag für Tag mussten wir, bewaffnet mit Zigaretten und Cognac, hin zu den armen, schon sehr entstellten Opfern, bis wir schließlich unseren Bootsmann durch seine Tätowierungen feststellen konnten. Er hatte eine sehr schwere Kopfverletzung, war also wohl erschlagen und beraubt worden, denn seine Taschen waren leer.


Winter in Tianjin *)

Wir bekamen Order, einen Winter über in Tientsin zu liegen, weil die Fremdenfeindlichkeit immer größer wurde, die dann ein paar Jahre später (1900) zum Boxeraufstand führte. So legten wir uns beizeiten, ehe der Peiho zufror, an den Kai, takelten den „Iltis“ ab, versahen das Oberdeck mit einem Holzdach und Holzwänden – beides lag bei einem chinesischen Schiffshändler bereit – sowie mit eisernen Öfen, bauten an Land einen Schweinestall, kauften uns von einem Deutschen 2 Ferkel, die wir mästeten, und ließen uns einfrieren. Dasselbe tat ein französisches Kanonenboot, das dicht hinter uns lag.

Als der Peiho zugefroren war, wurden Schlittschuhe besorgt. Gleich am 1. Tag gab es beim Schlittschuhlaufen eine Mordskeilerei zwischen unseren und den französischen Matrosen, die erheblich den Kürzeren zogen. Da kamen die Kommandanten überein, dass wir vom „Iltis“ an den ungeraden, die Franzosen an den geraden Tagen des Monats den Peiho für den Eissport frei haben sollten. Zu einem Verkehr zwischen uns und den französischen Offizieren kam es nicht.

Schlimm waren die gefürchteten Sandstürme, die aus der Wüste Gobi unvorstellbar viel, ganz feinen gelben Sand brachten, der in jede Ritze, in jeden Schrank drang, sich auf die Atmungsorgane legte, alle Speisen verdarb, Augenentzündungen hervorrief und 3 Tage und Nächte mit furchtbarer Heftigkeit wütete. – Wir hatten viel netten geselligen Verkehr an Land und besuchten die Clubs eifrig. Interessant waren die großen Thee-Karawanen, die von Tientsin bis Nischni-Nowgorod mit Kamelen durchgeführt wurden. Es war allgemeine Ansicht, dass der Karawanenthee der beste sei. Die riesigen Kamele mit ihren 2 Höckern und ihrem dicken Wollpelz – nicht zu verwechseln mit den einhöckrigen Dromedars – sowie ihren, in große Pelze gehüllten Führer machten einen imposanten Eindruck, besonders, wenn so eine Karawane hoch bepackt mit Theekisten und Ballen startete. Die Chinesen kennen keine Handschuhe. Stattdessen haben ihre Winterjacken so lange Ärmel, dass sie über die Fingerspitzen reichen, wodurch sie immer warme Hände haben. Wenn es ganz toll mit der Kälte ist, stecken sie die Ärmel zusammen und haben so eine Art Muff. Sie bereiten ihren Thee so zu, dass sie kochendes Wasser über die Blätter gießen, den Thee also nicht „ziehen“ lassen. Er ist dann goldgelb und hat ein wunderbares Aroma. Die Blätter werden wieder getrocknet und als „second hand“ an die arme Bevölkerung verkauft. Es heißt, dass auf vielen Theesäcken und Kisten in chinesisch aufgemalt stände: „dreimal gebrühter Thee für die verfluchten Fremden!“ 


Der Ausflug nordwestlich über Land  *)

Um Land und Leute kennen zu lernen, nahmen Paulun und ich 14 Tage Urlaub für einen Überlandritt über Peking nordwärts, Richtung Wüste Gobi. Es war barbarisch kalt, aber windstill. Wir waren chinesenmäßig angezogen. Nachts schliefen wir in Chinesen-Gehöften, manchmal nicht gerade gern gesehen. Dann brauchte ich nur meinen linken Unterarm mit der mal in Japan eintätowierten Schildkröte zu zeigen. Schildkröten gelten als Glücksbringer bei den Chinesen. Dann war sofort alles o.k. Die Chinesen schlafen immer im Zeug u.s.w. auf dem „Kang“, das sind flachliegende Öfen aus Backstein gemauert und gut geheizt. So schliefen wir auch jede Nacht. Wir kamen erst nach 3 Wochen zurück, was weiter nichts ausmachte. Während dieser Zeit haben wir uns nicht einmal waschen können, rieben uns nur Gesicht und Hände mit Glycerin ein. Da lohnte sich das erste Brausebad auf dem „Iltis“.


Die Operation *) 

In Tientsin bekam ich eines Tages ganz wahnsinnige Schmerzen in der linken Seite unterhalb der Rippen, so dass ich zusammenbrach. Paulun beförderte mich schnellstens ins Hospital. Die 3 englischen Ärzte erklärten es als „Myositis“, eine furchtbar schmerzhafte Vereiterung innerer Muskeln durch Infektion. Bisher sei noch kein Europäer damit durchgekommen, und nur wenige Chinesen hätten es überstanden. Eine Operation sei vollkommen hoffnungslos. Paulun erklärte, sie trotzdem riskieren zu wollen, bat mich um mein Einverständnis und erklärte offen und ehrlich, dass kaum Hoffnung bestände, mich durchzubringen. Ich bat ihn, auf jeden Fall zu operieren. Paulun tat es unter Assistenz der 3 Ärzte. Er kam erst am 2.0Tag an den ganz tief liegenden Eiterherd und rettete mir das Leben zum Erstaunen, aber auch zur größten Anerkennung der 3 englischen Ärzte.

Paulun bekam einen guten Ruf als ausgezeichneter Chirurg an der ganzen Küste von Singapur bis Wladiwostok, ganz besonders noch, als er einer hochgestellten englischen Dame durch eine schwere, aber geschickte Operation auch das Leben rettete; sie war sehr wohlhabend und verehrte Paulun eine besonders wertvolle medizinische Bibliothek aus Dankbarkeit.

Als meine Narbe, wenigstens nach meiner Ansicht, schön zugeheilt war, besuchte mich eine gute Bekannte, Frau Richter, deren Mann als preußischer Major chinesische Truppen ausbildete. Sie war eine große Reiterin und erzählte, dass sie am Nachmittag ein neues Pferd einreiten würde und bedauerte, dass ich nicht dabei sein könne. Ich sagte ihr, dass ich hinkäme, worauf sie mich für übergeschnappt erklärte. Sowie sie fort war, ließ ich mir von meinem Burschen heimlich meinen Reitanzug vom „Iltis“ holen und mein Pferd gesattelt hinbringen. Es ging alles soweit gut, nachdem Frau Richter sich von ihrem Erstaunen erholt hatte. Aber als sie eine niedrige Hürde nahm, refusierte mein Pferd und ich flog in hohem Bogen in den Dreck, wobei die Narbe wieder aufriss. Ich kroch reumütig in mein Körbchen im Hospital zurück. Die dann folgende Abreibung von den 3 Ärzten und Paulun, vom Kommandanten, meinen Messekameraden und Frau Richter waren verheerend.

Eisschwimmen in der Oker

Die Turnfahrt in den Harz

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